IronMan
… eigentlich braucht es nicht mehr als dieses Wort, um einen 19-Stunden-Tag zusammenzufassen – hier ein Erlebnisbericht von etwas, das sich schwer beschreiben lässt:
4:45 Uhr, der Wecker klingelt. Ich stehe vor meinem „längsten“ Tag. Um die frühe Startzeit (7 Uhr) wissend habe ich eine Woche vorher angefangen, meinen Schlafrhythmus behutsam umzustellen. Jeden Tag 20 Minuten früher aufzustehen, hat für mich super funktioniert. Dennoch fühle ich mich komisch, als ich aufrecht im Bett sitzend realisiere, was mir an diesem Tag bevorsteht.
Um kurz vor 6 bin ich an meinem Rad und bringe die Verpflegung an. Die Aerotrinkflasche am Lenker wird befüllt und eine Flasche mit Maltodextrinkonzentrat an den Rahmen gesteckt. Während der Fahrt werde ich dann die Lenkerflasche mit dem Konzentrat und Wasser, das es an den Verpflegungsstellen gibt, auffüllen. So muss ich nicht die vorher ausgerechneten sechs Flaschen Flüssigkeit mitschleppen. Auf das Oberrohr klebe ich mit Verbandsklebeband fünf Powerbarriegel. Einen sechsten stecke ich mir in die Backen und kaue die nächsten 10 Minuten widerwillig darauf herum. Die Oberseite des Arolenkers wird mit Energiegummis paniert – das sind dropsgroße Fruchtgummis, die mehr nach Süßigkeit schmecken als nach Wettkampfernährung. Kurz angeleckt halten die Dinger auf jeder glatten Oberfläche, lassen sich aber im Rennen wieder leicht wieder abpflücken und schnell in den Mund schieben. Vielen Dank für die Idee, Anke!
Nun ist gar nicht mehr so viel Zeit. Ich gehe ins Umkleidezelt und fange an, mich in den Neoprenanzug zu quetschen. Bevor er hochgezogen wird, kommt noch eine Portion Ringelblumenmelkfett in den Schritt -schließlich warten mehrere Stunden Reibung auf meinen Allerwertesten. Eine zweite Handvoll kommt in den Nacken, wo der Neoprenanzug am meisten ziemlich scheuert. Ein Mitstreiter macht einen Spruch über Schamgefühl, schließlich präparieren sich hier alle mit „Gleitmittel“. Gequältes Gelächter im Zelt. Unter der vom Veranstalter vorgeschriebenen Badekappe trage ich eine zweite, da eine Wassertemperatur von 16,5° Celsius angesagt ist und ich bei solch kaltem Wasser oft mit Kopfschmerzen zu kämpfen habe.
Ich begebe mich an den Strand und schwimme ein paar Züge, um mich auf die Wassertemperatur und das Salzwasser einzustellen. Über unseren Köpfen surrt eine Kameradrohne – vermutlich für den Ostseeman-Imagefilm.
6:45 Uhr: „Alle Athleten aus dem Wasser und hinter die Startlinie!“ Jetzt verfliegt die Zeit. Plötzlich: „Noch 30 Sekunden.“ Mein Puls zeigt 150. Passend dazu wird über Boxen der Sound eines stark pochenden Herzens eingespielt. „Zehn, neun, acht… PENG!“
Alles rennt ins Wasser. Ich habe beschlossen, so lange wie möglich zu laufen. Das Spitzenfeld ist anscheinend schon ganz links gestartet. Die ersten Delphinsprünge werden ausgeführt. Um mich herum herrscht das reinste Chaos – ohrenbetäubender Lärm, als sich die 900 Athleten mit ihren schwarzen Anzügen durch das seichte Wasser kämpfen. Ich denke kurzzeitig an Grindwale, die in einer engen Bucht abgeschlachtet werden.
Wie immer in der Startphase, bekomme ich nach den ersten leichten Schlägen etwas Panik. Ich werfe mich nach vorne, doch nehme ich den Kopf ganz schnell wieder aus dem Wasser. Nein, ich kann so noch nicht schwimmen. Ich beschließe, mich im Volleyballkraul bis zur ersten Boje zu kämpfen. Das bedeutet, ich halte den Kopf über Wasser und führe eine Mischung aus Kraul- und Brustzügen durch, um den Kopf oben behalten zu können. An der erste Boje macht der Kurs eine 90°-Kehre, was zu einer Verengung des Feldes führt. Die Schläge werden häufiger, die Hektik im Feld nimmt zu. Mein Puls ist bei 190. Obwohl ich ohne Probleme zweieinhalb Minuten die Luft anhalten kann, habe ich Angst um meinen Atem. Das Feld geht wieder auseinander. Endlich traue ich mich, den Kopf unter Wasser zu nehmen und versuche in meinen Stil zu kommen, was mäßig gelingt. Aber das Feld streckt sich langsam und nach jeder Boje werde ich ruhiger. Ich bemühe mich, Kurs zu halten – nicht so einfach, da d! ie Bojen sehr weit auseinander sind.
Meine GPS-Auswertung zeigt im Nachhinein, dass ich ziemlich hin und her geschwommen sein muss. Dennoch habe ich ab der zweiten Runde tatsächlich ein wenig Spaß und versuche, ein bisschen schneller zu schwimmen – die Arme werde ich heute sowieso nicht mehr brauchen.
Als ich am Strand ankomme, strahle ich über das ganze Gesicht: Die große Unbekannte „3,8-km-Freiwasserschwimmen“ ist gut überstanden!
Jetzt also Rad fahren – meine Lieblingsdisziplin! Wechselbeutel greifen, Neo ausziehen, Tube Gel in den Mund drücken und die Genuss-Geheimwaffe in die Rückentasche des Einteilers stecken: ein Energieriegel mit Schokolade und Karamell-Nuss-Füllung, der wie eine Nussecke schmeckt. Da er fürs Laufen ungeeignet ist, soll er mir auf dem Rad eine Geschmacksfreude und mit 500 Kalorien ein bisschen Feuer machen. Jetzt mit der 50er-Sonnencreme zwei dicke Streifen von der Hand bis zur Schulter auftragen – und weiter! Beim Laufen zum Rad verreibe ich die Creme grob und greife dann nach Helm und Startnummer. Beides lege ich zügig an, nehme dann das Rad und eile zum Ende der Wechselzone.
Breitbeinig springe ich auf den Sattel und setze die Füße auf die Radschuhe, die bereits in die Pedale eingeklickt sind und durch Gummis waagerecht gehalten werden. Ich beginne zu treten – bei der Fahrt werden die Füße in die offenen Schuhe geschoben und fixiert.
Nun also 180 km – ab geht’s!
Eigentlich war der Plan, die erste Runde langsam anzugehen und dann, sobald die Strecke bekannt ist, das Tempo zu steigern. Durch das Adrenalin und die anderen Athleten getrieben, gelingt mir die Umsetzung dieses Plans nicht wirklich.
Eine Schwierigkeit gibt es nach etwa 25 km, und zwar an einer Steigung. Hier bemerke ich, dass ich den neuen Vorbau nicht fest genug am Gabelrohr angezogen habe. Als ich das erste Mal aufstehe und kräftig trete, jagt ein lautes Quietschen mir und anderen Athleten einen Schrecken ein. Ich setze mich also wieder hin und versuche, aus dem Sitzen genügend Kraft aufzubringen. Das gelingt mir zwar, doch werde ich von mehreren Athleten überholt.
Ab der zweiten Runde gebe ich mir ein kleines Battle mit einem anderen Athleten. Es sind immer die gleichen Stellen, an denen wir einander überholen. Nach dem gefühlten zehnten Wechsel lache ich ihn an und frage ihn, ob das bis ins Ziel so weiter geht. „Markus“ ist ein kraftbetonter Fahrer – ich fühle mich dagegen mit mehr als 100 Pedalumdrehungen pro Minute am wohlsten.
Die ersten 4 Runden á 30 km laufen überraschend gut. Ab 130 km bemerke ich aber, dass meine Beine langsam müde werden und leichte Abweichungen vom regelmässigen Tritt mit Warnzeichen strafen.
In der vorletzten Runde rutscht mir dann auch noch der Lenker durch seine Klemmung. Ich muss bei der Montage des Vorbaus wirklich geschlampt haben. Zum Glück habe ich einen passenden Imbus dabei (sonst nehme ich nie Werkzeug im Wettkampf mit). Ich steige also ab, richte den Lenker und ziehe die Schrauben richtig fest an – während Markus an mir vorbei fährt. Das kann ich natürlich nicht auf mir sitzen lassen und trete wieder an.
Auf der letzten Runde taucht ein leichtes Flimmern in meinem Blickfeld auf. Ich fühle mich auch etwas reaktionsträge. Ob ich dehydriert bin oder einfach nur erschöpft, weiß ich nicht genau – nur, dass ich mich jetzt freue, vom Rad herunter zu kommen. Und ich denke: Wenn ich in der ersten Runde einigermaßen laufen kann, schaffe ich es tatsächlich ins Ziel! Dieser Gedanke gibt mir neue Power.
Ich freue mich diebisch, Markus vor dem Wechsel noch mal einzusacken, und komme euphorisch in den zweiten Wechsel. Im Wechselzelt unterstützt mich ein Helfer beim Umziehen – und ab geht’s auf die Laufstrecke!
Ruhig, Brauner! Das sage ich zu mir. Denn der Wechsel vom Rad zum Laufen ist immer ein kritischer Punkt bei mir. Auf den kurzen Landesliga-Wettkämpfen hatte ich an dieser Stelle immer mit schwerem Seitenstechen zu kämpfen. Auch diesmal werde ich nicht verschont – was mich nicht so arg mitnimmt: Ich habe ja genug Zeit, um es wegzulaufen!
Nach 2 km sind die Seitenstechen tatsächlich weg und ich schaue auf die Uhr: 5:45min/km. Da ich nicht das Gefühl habe, dass der Kreislauf schon am Anschlag läuft, werde ich etwas übermütig und beschließe, nun vorsichtig Tempo hinzu zu nehmen. Dass ich heute nicht annähernd an meine Marathon-Zeit heran kommen werde, spüre ich zwar, aber im Kopf gehen die Gedankenspiele los: Was, wenn ich 5min\km halten kann?!
Kurz hinter dem Glücksburger Schloss steht mein Papa mit der Videokamera. Ich rufe ihm zu: „Läuft gut! Jetzt bin ich mir sicher, dass ich ankomme!“ Auch der Fankurve von Wencke, Felix, Thomas und Hannes und ihrem „Blitzlichtgewitter“ lache ich entgegen und rufe: „Läuft gut!“
Da ich beim Laufen nicht die gleichen Mengen Flüssigkeit wie beim Radfahren zuführen kann, ohne Zeit zu verlieren, beschließe ich, an jeder Verpflegungsstation einen Mund voll zu nehmen und mir den Rest des Bechers ins Gesicht zu schütten.
Jede Runde verläuft an einer Stelle kurz parallel zum Zieleinlauf. Hier ruft Maja begeistert: „Moritz! Moritz! Klasse!“ Von Glücksgefühlen angepeitscht geht es in die zweite Runde. Jetzt weiß ich es: Heute werde ich IronMan!
Meinen plötzlich einsetzenden Salzhunger stille ich mit Brühe und Salzstangen. Ein zufällig gegriffenes Stück einer Wassermelone entpuppt sich als absoluter Brüller. Mehr davon! Wann immer es nun Melonen gibt, nehme ich mir zwei Hände voll. Beim Essen überholt mich plötzlich Markus. Scheiße, hat der einen Zahn drauf… Wurscht, sein Tempo kann ich heute eh nicht halten.
Ich merke immer deutlicher die vom Radfahren zerschossenen Oberschenkel. Richtig hoch bekomme ich die Füße so nicht. Mein gerade erreichter Pace von 5:00min/km bricht ein. Am schlimmsten ist es an der Steigung vom Strand in die Stadt. Hier geht es über 1 km mit unerhörter Steigung (bis zu 10%) nach oben. Rückblickend muss ich sagen, dass Glücksburg in allen Disziplinen die schwierigsten Strecken bietet, mit denen ich es bisher zu tun hatte.
Die vierte Laufrunde wird die härteste. Die Oberschenkel brennen und die eben noch ausgerechneten 10:30h lösen sich in Luft auf. Wurscht! Heute werde ich IronMan! Papa ruft: „Wir sehen uns im Ziel!“
Ja, Ziel! Nur noch ins Ziel… Ach was?! Da ist ja Markus – und er muss gehen. Er versucht immer wieder zu laufen, wechselt aber unter Schmerz verzerrtem Gesicht wieder ins Gehen. Ich verkneife mir, ihn zu grüßen, als ich an ihm vorbei laufe. Aber auch ich werde langsamer.
1 km vor dem Einlauf in die letzte Runde warten Stephan und Maja. „Langsam mag ich nicht mehr“, rufe ich ihnen zu. Ich drücke Stephan meine völlig verschmierte Sonnenbrille und mein Cap in die Hand. Maja erkennt wohl mein moralisches Ende und läuft mir hinterher. Bei mir angelangt, redet sie: auf mich ein: „Ok, Moritz, du hast es fast geschafft! Jetzt konzentrier dich auf alles, nur nicht auf dich selbst!“
Hä, warum soll ich mich nicht auf mich selbst konzentrieren? Das kann ich doch so gut… Ich versuche es: Ach, schau mal, wie schön die Förde ist! Wahnsinn, was für eine tolle Stimmung hier im Zielbereich! Hübscher Bikini da drüben… Langsam verstehe ich, was Maja bezwecken wollte: Die Schmerzen sind aus dem Sinn und die Erschöpfung ist verdrängt.
Letzte Runde! Ich bekomme noch einmal richtig Lust zu laufen. Ich genieße jede Sekunde. 3 km vor dem Ziel beginne ich sogar zu „rennen“. Gleich bin ich IronMan! Meine Mundwinkel treffen fast auf meine Ohren. Auf der Zielgeraden warten Thomas und Hannes: „Wahnsinn! Moritz, du bist der krasseste! Ich will ein Kind von dir!“ Von meinen Emotionen getragen fliege ich über den blauen Zielteppich. Im Laufen balle ich die Fäuste und schreie ein Urzeit-„Jaaaaa!“ ins Ziel.
IronMan!!!